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Gewichtsdecken

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Therapeutische Gewichtsdecken werden mit speziellen Füllstoffen (zum Beispiel Kunststoff- oder Glaskugeln) ausgestattet. Dem durch das erhöhte Gewicht auf den Körper wirkenden Tiefendruck werden neben Wellness-Effekten auch spezifische therapeutische Wirkungen (Angstlösung, Senkung des Muskeltonus, Verbesserung der Schlafqualität, Erhöhung der Aufmerksamkeitsleistungen am Tage) zugeschrieben.

Als Gewichtsdecken (auch sensorische Decken oder Therapie-Decken genannt) werden Bettdecken oder ähnliche Körperauflagen bezeichnet, die aufgrund spezieller Füllstoffe ein höheres Gewicht aufweisen, als herkömmliche Steppdecken. Aufgrund eines bei Verwendung von Gewichtsdecken wirkenden Tiefendrucks (deep pressure touch stimulation) soll bei Patienten mit Ein- und Durchschlafproblematik die Schlafqualität verbessert und das allgemeine Wohlbefinden gesteigert werden. Auch in Zusammenhang mit ADHS-Symptomen (und häufigen Komorbiditäten) werden therapeutische Effekte postuliert. Aufgrund der aktuell noch übersichtlichen empirischen Datenlage lässt sich die klinische Wirksamkeit von Gewichtsdecken noch nicht wissenschaftlich beurteilen.

Hypothesen zur Wirkungsweise

Die Wirkungsweise von Gewichtsdecken wird auf das (wissenschaftlich schwach etablierte) Paradigma der deep pressure touch stimulation (DPTS) zurückgeführt. Die Hypothese der DPTS beinhaltet die Annahme, dass die Applikation eines festen, sensorischen Drucks (Tiefendrucks), wie er auch bei einer Umarmung oder einer Massage wirken kann, angstlösende, entspannende und beruhigende Effekte hat.

Effekte des Tiefendrucks

Gewichtsdecken kamen bereits Ende der 1990er Jahre im klinischen Bereich zum Einsatz.[1] Ab dem Jahr 1999 führte die US-amerikanische Klinikerin Tina Champagne erste experimentelle Untersuchungen mit Gewichtsdecken durch und beobachtete bei Patienten mit Autismus-Spektrum- oder Angststörungen eine spontane subjektive Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens und der Schlafqualität. Auch die Umsetzbarkeit schlafhygienischer Maßnahmen schien sich unter regelmäßiger Verwendung der Gewichtsdecken zu erleichtern, was Champagne zur Annahme führte, dass die neurophysiologischen Effekte des Tiefendrucks letztlich zentral in einer Steigerung der Selbstregulations- und Selbstorganisationsfähigkeiten und -Kompetenzen begründet liegen.

Neurophysiologische Wirkmechanismen

Seit den 1990er Jahren wurden verschiedene Hypothesen zu möglichen, genaueren neurophysiologischen Wirkmechanismen der DPTS vorgestellt, für die soweit zwar korrelative Hinweise,[2] jedoch keine experimentell-empirischen Belege existieren.

Wissenschaftliche Beurteilung von Nutzen und Wirkung bei ADHS

In der Untersuchung von Hvolby und Bilenberg wurden Gewichtsdecken verwendet, die als Füllstoff spezielle Bälle aus Kunststoff oder Kunststoff-Polystrol-Mischungen beinhalteten.

Die Bedeutung von Gewichtsdecken in Zusammenhang mit ADHS ist bislang nicht umfangreich untersucht worden, sodass die sich in letzter Zeit mehrenden, anekdotischen Berichte über positive Effekte bislang noch nicht überzeugend bestätigt werden konnten.

Wirksamkeit von Gewichtsdecken bei ADHS

Effekte auf die Ein- und Durchschlafdauer bei ADHS

Im Jahr 2011 untersuchten Hvolby und Bilenberg 21 Kinder mit ADHS-Diagnose, indem sie diese über 14 Tage hinweg statt ihrer üblichen Bettdecken Gewichtsdecken anwenden ließen. An weiteren 14 Tagen nutzten die Kinder ihre gewohnten Bettdecken. Kontrolliert wurde mit einem gesunden Kontrollarm aus 21 Probanden. Die Auswertung der aktigraphischen Daten und der von den Eltern geführten Schlaftagebüchern ergab, dass

  • die Anwendung der Gewichtsdecke mit einer signifikanten Reduzierung der Einschlafzeit und der Häufigkeit des nächtlichen Erwachens auf das Niveau der gesunden Kontrollgruppe verbunden war.
  • Unter Verwendung der gewohnten Bettdecke benötigten 19 % der ADHS-betroffenen Kinder länger als 30 Minuten, um einzuschlafen.
  • Unter Verwendung der Gewichtsdecke normalisierte sich die Einschlafdauer bei allen Kindern der ADHS-Gruppe auf unter 30 Minuten.

Eine randomisierte placebokontrollierte Studie von Eckholm et al. an 120 psychiatrischen Patienten, davon 13 mit ADHS, fand bei den Probanden (auch denjenigen mit ADHS), die eine Gewichtsdecke verwendeten, nach 4 Wochen eine Verbesserung des Insomnia Severity Index (ISI) auf rund die Hälfte. Im anschließenden offenen Studienteil über weitere 11 Monate, bei dem ADHS nicht getrennt ausgewertet wurde, verbesserte sich die Schlafqualität im Schnitt von fast "schwer" auf "unterschwellige Schlaflosigkeit" nach dem ISI. Die Tagesmüdigkeit verringerte sich ebenfalls und die Tagesaktivität erhöhte sich.[3]

Effekte auf die ADHS-Gesamtsymptomatik

Die Auswertung der Lehrer- und Eltern-Urteile bei Hvolby und Bilenberg in Bezug auf die allgemeine ADHS-Symptomatik hatte keine signifikanten Verbesserungen zum Ergebnis, wobei in der Untersuchung nicht zwischen klinischen Subtypen und medikamentöser Einstellung differenziert wurde:

  • Nach dem Urteil der Lehrer verbesserten sich Hyperaktivität und Aufmerksamkeit der ADHS-Kinder nach Verwendung einer Gewichtsdecke jeweils nicht signifikant um etwa 10 %.
  • Auch die von den Eltern beobachteten Effekte auf Hyperaktivität (6 %) und Aufmerksamkeit (6 %) wurden nicht signifikant.

Ein Großteil der Kinder der ADHS-Gruppe war medikamentös eingestellt. Die Medikation wurde im Untersuchungszeitraum beibehalten.

Eckholm et al. beobachtete bedauerlicherweise die ADHS-Symptome nicht.

Wirksamkeit bei Autismus-Spektrum-Störung

Im Jahr 2014 untersuchten Gringras et al. in einer randomisierten, begrenzt placebokontrolierten (da unverblindeten) Studie die Wirksamkeit der Anwendung von Gewichtsdecken bei 67 Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung und schweren, therapierefraktären Schlafstörungen.[4] Neben der Abfrage der Eltern- und Kind-Urteile wurden zudem aktigraphische Daten aufgezeichnet. Nach Auswertung der objektiven Daten zeigte sich, dass die Anwendung von Gewichtsdecken keine signifikanten Verbesserungen auf die Einschlafdauer, die Gesamtschlafdauer oder die Schlafqualität der untersuchten Kinder mit ASD-Diagnose hatte. Teils diametral gegenläufig war jedoch das subjektive Urteil der befragten Kinder und Eltern – diese bevorzugten beiderseits häufiger die Gewichtsdecke und die Eltern beurteilten das Verhalten der Kinder nach Anwendung der Gewichtsdecke als ausgeglichener (35 %), als nach Anwendung der Kontroll-Decke (14 %).

Wirksamkeit bei Angst und Depression

In der Studie von Eckholm et al. gingen Angst und Depression nach der Hospital Anxiety and Depression Scale (HAD) signifikant und mit deutlicher Effektstärke zurück. Eine Metaanalyse von 8 Studien fand 2020 eine signifikante Wirkung von Gewichtsdecken in Bezug auf Angst bei bestimmten Betroffenenkreisen, aber keine ausreichende Evidenz für eine Wirkung in Bezug auf Schlaflosigkeit.[5]

Bedeutung des individuellen Gewichts

Es wird angenommen, dass der Effektivitätsgrad therapeutischer Gewichtsdecken vom Körpergewicht abhängig ist. Nach Mullen und Champagne sollte das Gesamtgewicht der Decke in etwa 10 % des Körpergewichts entsprechen.[6] Für eine 75 Kilogramm schwere Person sollte daher ein Gewicht zwischen sieben und acht Kilogramm gewählt werden.

Bedeutung der Freiwilligkeit und Abgrenzung von fragwürdigen Therapien

Es wird vorausgesetzt, dass die Anwendung von Gewichtsdecken für den Patienten stets als angenehm empfunden werden und daher freiwillig erfolgen muss. Insbesondere bei kleineren Kindern sollte daher darauf geachtet werden, dass das Gewicht der Decke nicht zu hoch gewählt wird, sodass das Kind in der Lage ist, die Decke selbstständig zu entfernen. Auch darf die Atmung durch das Gewicht nicht beeinträchtigt sein. Die therapeutische Zielrichtung der Anwendung von Gewichtsdecken steht in keinem (bzw. gegensinnigem) Zusammenhang mit umstrittenen Ideen wie der Festhaltetherapie[7] oder der Anwendung von Zwangsjacken, welche die Person in ihrer Bewegungs- und Handlungsfähigkeit einschränken.

Kritik an Vermarktungspraktiken

Im Jahr 2017 wurden Gewichtsdecken – als Kickstarter-Projekt – erstmals für den Privatgebrauch konzipiert.[8] Ab 2018 entwickelte sich in relativ kurzer Zeit ein weltweiter Massenmarkt.[9] Kritisiert werden dabei unter anderem die Werbeversprechen der Hersteller. So behauptete ein deutscher Gewichtsdecken-Vertrieb im Jahr 2019, dass „bei angemessenem Gewicht die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin und des Schlafhormons Melatonin gefördert und gleichzeitig der Cortisolspiegel [...] gesenkt“ werde, ohne wissenschaftliche Belege für diese Behauptungen anführen zu können. Martin Keck (Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München) kommentierte hierzu: „Das Melatonin muss erst einmal auch im Gehirn ankommen. Das ist nicht automatisch gegeben, nur weil der Körper möglicherweise mehr Serotonin produziert“. Darüber hinaus kritisierte Keck die minderwertige Qualität der von kommerziellen Anbietern häufig angeführten Studien. In diesen fehlten häufig objektive Parameter, wie sie in einem Schlaflabor erhoben werden.“[10]

Siehe auch

Weblinks

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Einzelnachweise